2007-07-15

Religion als objektivierter Glaube und Glaube als subjektivierte Religion

Von der Instrumentalisierung transzendierter Glaubensimplantate
Oder:
Von der Gefährlichkeit der Verabsolutierung des Relativen und der Relativierung des Absoluten

Religion muss für vieles herhalten. Sie bedient Weltbilder, Regelungsbedarf, Beschwörungsbedarf, Rechtfertigungsbedarf, Sendungsbewusstsein, individuelle und ethnokulturelle Identität. Gäb's keine Religion, der Mensch würde sie sich erfinden; so sehr verlangt sein subjektiver Geist nach objektiver Verankerung. In der Religion kommt das unruhige, anfechtbare und angefochtene Subjektive zur Ruhe und Gewissheit. Ehrfürchtig und liebevoll schaut es auf zu seiner Objektivierung als dem Absoluten.

Mensch besetzt das Absolute zonenweise. Das Resultat, die Kartographie des Absoluten, findet sich in jedem Schulatlas. Kreuze an Schulraum- und Gerichtssaalwänden, Bärte und Locken, Hüte und Kappen, Verbeugungen und Kniefälle, Verhüllungen und Beschneidungen von Körperteilen, Rufe und Gesänge, Lautsprecher und Glocken, Türme und Schiffe zeigen lokale und personale Residenzen von Varianten des Absoluten an.

Wirst du im emsländischen Papenburg geboren, hast du mit hoher Wahrscheinlichkeit römisch-katholische Eltern, feierst die Erstkommunion, wirst gefirmt, heiratest katholisch und erziehst deine Kinder entsprechend. Kommst du hingegen im 20 km entfernten ostfriesischen Leer zur Welt, hast du mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit evangelische Eltern, wirst konfirmiert, heiratest protestantisch und erziehst deine Kinder entsprechend. Es sei denn, deine Eltern haben eine Migrationsbiographie. Dann wirst du mit hoher Wahrscheinlichkeit Muslim sein und mit einem muslimischen Partner ehelich verbunden werden und Kinder in die Welt setzen, die die Religion deiner Väter annehmen und weitervererben werden.

Mithin wird das invariante Absolute in konkreten Varianten gedacht. Welchem Menschen wäre auch etwas anderes möglich? Und das ist auch gut so.

Es ist gut so - es sei denn, die Denker nähmen das Gedachte als Absolutes.

  • Dann nämlich kann ein junger Orientale ein gutes Gewissen haben, wenn er, um die Ehre seiner Familie wiederherzustellen, im Auftrag des Familienrats seine europäelnde Schwester tötet.
  • Dann kann sich ein unterbelichteter Präsident von Gott beauftragt sehen, den Irak zu bombardieren und zu besetzen.
  • Dann kann sich ein Mann mit der heiligen Schrift, an deren göttlichen Ursprung er glaubt, rechtfertigen, wenn er seine Frau schlägt, die ihn mit eigenen Ansichten aus der Fassung gebracht hat.
  • Dann können sich nicht wenige Islamgelehrte und muslimische Ärzte auf Gottes Gesetz berufen, wenn sie fordern und in die Tat umsetzen, die sexuelle Erregbarkeit von Mädchen und Frauen durch Verkürzung der Klitoris herabzusetzen.
  • Dann entbehrt es nicht eines theologischen Untergrunds, wenn ein frommer Bibelübersetzer das Judentum als verlogen verabscheut und wenn er in Wort und Schrift Rechtfertigungsgründe für antijüdische Pogrome liefert. «Solches sol man thun, unserm Herrn und der Christenheit zu ehren damit Gott sehe, das wir Christen seien.» (Von den jüden und iren lügen, 1543)
  • Dann kann man es als eine heilige Handlung ansehen, wenn ein Mann Gottes Hunderte von Priestern einer konkurrierenden Religion zusammentreiben lässt und eigenhändig abschlachtet.

Man kann also in ein bestimmtes religiöses Umfeld hineingeboren werden und, von ihm geprägt, in es hineinwachsen. Gegen diesen Enkulturationsprozess spricht nichts und wirklich gar nichts. Aber: Das Moment der Entscheidung geht diesem verinnerlichten Glaubensimplantat ab. Mit der Aufnahme der religiösen Muttermilch ist eine stille Feiung des jungen Menschen gegen religiöse Fremdeinwirkungen verbunden. Solange die Selbstverständlichkeit seines Selbstverständnisses nicht durch existenziell kritische Diskrepanzerlebnisse in Frage gestellt ist, weiß man nicht recht auf die Infragestellung seines Glaubens zu reagieren und sind daher Versuche, seinen Glauben rational, in der Kommunikation nachvollziehbar zu rechtfertigen, im allgemeinen in Hinsicht auf die Tiefe aufgesetzt, in Hinsicht auf die Logik zirkelschlüssig und in Hinsicht auf die Wirkung vielleicht beeindruckend, nicht aber eigentlich überzeugend.
Damit kann man aber doch leben - - - es sei denn, der Implantatsträger beginnt, um sein Implantat zu fürchten, sei es weil es sich auflösen könnte, sei es weil er selbst es abstoßen könnte. Angst um den Bestand des Selbstverständnisses kann Überreaktionen hervorrufen, die nicht nur die Innenwelt, sondern auch das Verhalten zur Außenwelt in Unordnung bringen.
Damit allerdings kann man nicht gut leben.

Fürwahr, Religion muss für vieles herhalten. Sie  bedient Weltbilder, Regelungsbedarf, Beschwörungsbedarf, Rechtfertigungsbedarf, Sendungsbewusstsein, individuelle und ethnokulturelle Identität. Gäb's keine Religion, der Mensch würde sie sich erfinden; so sehr verlangt sein subjektiver Geist nach objektiver Verankerung. In der Religion kommt das unruhige, anfechtbare und angefochtene Subjektive zur Ruhe und Gewissheit. Ehrfürchtig und liebevoll schaut es auf zu seiner Objektivierung als dem Absoluten.

Der (religiöse) Glaube nennt die Idee des Zwecks aller Zwecke und des höchsten Guts "Gott". Wiewohl Objekt des Glaubens, entzieht sich Gott aber der Objektivierung durch das glaubende Subjekt: er ist für den Glaubenden das eigentliche, ihn bestimmende Subjekt, und Glauben ist dasjenige Denken, das in dieser inbegrifflichen Subjektivität aufgehoben ist.
Religion aber ist Bindung durch Lehrsätze, Hierarchie, Bimbam und Klimbim, worin mancher Glaube Halt zu finden sucht.

Siehe auch: Johannas Web-Journal: Absolutheit.

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