2008-08-14

Religiöse Bildung

Meine Großmutter väterlicherseits hatte um 1900 herum noch den Katechismus, eine Batterie von Bibelsprüchen, ein halbes Gesangbuch und eventuell noch einen kirchengeschichtlichen Leitfaden auswendig zu lernen. Diese Kenntnisse schoss sie ein halbes Jahrhundert später, wenn sie mich als ihre "sonderliche" Enkeltochter bei Besuchen meinte begutachten zu müssen, wie Giftpfeile auf mich ab. Ich erlebte sie nie als eine gute Großmutter, obwohl (oder vielleicht weil?) sie in der Religion "gut bewandert und ausgebildet" war, und die Bibel, mit der sie mich malträtiert hatte, lernte ich erst nach ihrem Hingang als heilige Schrift schätzen.

Mitte des 19. Jahrhunderts (1854) hatte das preußische Kultusministerium die von Ferdinand Stiehl, Oberregierungsrat im preußischen Kultusministerium, ausgearbeiteten »Regulative für das Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesen« erlassen. Sie wiesen einem theologisch konservativen Religionsunterricht und einem dynastisch-patriotischen Geschichtsunterricht die zentrale Stellung in der Volksschule zu, schrieben den Elementarschulen ein erdrückendes Maß an Memorierstoff aus Bibel und Gesangbuch vor und schlossen die Lehramtsanwärter von der Lektüre der klassischen Schriftsteller aus. Die Volksschullehrer sollten nicht räsonieren, sondern die Kinder zu arbeitstüchtigen und vor allem gehorsamen Untertanen und Kirchgängern heranbilden, gebunden an Patriotismus und vorgegebenes, vorgeschriebenes religiöses Formelwissen. (Siehe da.)
Dagegen stritt - seinerzeit ohne Aussicht auf Erfolg - Stiehls Antagogist, der Lehrerseminarleiter F. Adolph W. Diesterweg, mit bildungstheoretischen und psychologischen Argumenten:

"Es giebt Viele, welche meinen, man müsse den Lehrern nur Richtiges, Unbedingtes und Absolutes hingeben, und sie zur unbedingten, wenn auch zum Theil erzwungenen und sklavischen Annahme und Befolgung der aufgestellten Satzungen bestimmen. Zu diesen gehöre ich nicht. Ich kann mir keine wahre, selbsteigene, d.h. zu eigen gewordene Bildung denken, ohne Untersuchung und Prüfung, ohne Selbstdenken und Anstrengung."
[Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer. (1834)]

Ja, was ist Bildung?
Was ist Religiosität?
Was ist religiöse Bildung?
Soll der je eigene Weg der jungen Menschen bei der Entwicklung ihrer Religiosität eine Rolle spielen? Ist tradierte Religion Anregung und Angebot für die je eigene religiöse Entwicklung? Oder ist sie Vorschrift und Lernstoff, so dass in ihrem Namen die je eigenen Wege unterbunden werden müssen?
Angeregt durch ein Zitat Khaled Abou El Fadls: "piety creates and pursues the rules but rules do not create piety", frage ich allgemeiner:
Entwickelt sich durch die Übernahme einer Religion eine Beziehung zu Gott? Oder entsteht Religion durch die Beziehung zu Gott?
Ist Religion außer uns oder in uns zu suchen?
Wie kann das Verhältnis zwischen statutarischer (in Sätze und Satzungen gegossener) Religion und innerer (vom Gläubigen geglaubter und gelebter) Religion gesehen werden?
In welcher Beziehung steht die Aneignung des systematisierten Wissens und die gewohnheitsmäßige Übernahme der rituellen Praktiken einer tradierten Religion zur Eigentlichkeit individuellen Glaubens?
Muss Glauben eine Sache des Gehorsams gegenüber einer Religion als Vorgeschriebenem sein? Oder kann unter Glauben, fernab von Vorschriften und Gehorsam, die freudige Bereitschaft verstanden werden, auf den erfahrenen (oder ersehnten) Liebesanspruch Gottes liebevoll zu antworten?
Und was folgt aus den möglichen Antworten auf diese Fragen für die religiöse Erziehung? Und kann eine religiöse Erziehung, in der der Glaube als Pflicht vermittelt ist, den so Erzogenen religiös soweit zurechtstutzen, dass er nicht mehr fähig und geneigt ist, eine tiefere Religiosität zu entfalten? Und ist das weniger bedenklich, als wenn er seinen Glauben von den an ihn herangetragenen Religionsnormen abweichend weiterentwickelt?

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