Durch nichts ist unser (Glaubens-) Leben mehr gekennzeichnet, als durch die selbstgeschaffenen Gottesbilder. Ich denke an den Theologen, der nicht auf Gott wartet, weil er ihn, in ein Lehrgebäude eingeschlossen, besitzt. Ich denke an den Theologiestudenten, der nicht auf Gott wartet, weil er ihn, in seine eigene Erfahrung eingeschlossen, besitzt. Es ist nicht leicht, dieses Nicht-Haben Gottes, dieses Warten auf Gott zu ertragen. Es ist nicht leicht, Sonntag für Sonntag zu predigen, ohne den Anspruch zu erheben, Gott zu besitzen und über ihn verfügen zu können... Ich bin überzeugt, dass ein großer Teil des Widerstandes gegen das Christentum daher rührt, dass die Christen, offen oder versteckt, den Anspruch erheben, Gott zu besitzen und daher das Element der Erwartung verloren haben, das so entscheidend für die Propheten und Apostel ist ... Wir sind stärker, wenn wir warten, als wenn wir besitzen. Wenn wir Gott besitzen, so reduzieren wir ihn auf einen kleinen Ausschnitt, den wir von ihm erfahren und begriffen haben, und wir machen aus ihm einen Götzen... Aber wenn wir wissen, dass wir ihn nicht kennen, und wenn wir auf ihn warten, um ihn zu erkennen, dann wissen wir wirklich etwas von ihm, dann hat er uns ergriffen und erkannt und besitzt uns. Dann sind wir Glaubende in unserem Unglauben, und dann sind wir von ihm bejaht trotz unseres Getrenntseins von ihm.
(Religiöse Reden I 165ff).
2009-05-07
Paul Tillich: Gott erwarten vs. Gott besitzen
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Sehr treffend! Da kann man sich nur anschließen...
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