Eintreten für den Einzelnen; Eintreten für den Schwachen:
«Aus Gen 18 [...] lernen wir: Abrahams Kampf um menschliche Gerechtigkeit ist ein Teil der Verwirklichung des Segens Abrahams für die Völkerwelt und die Menschheit.»
In Lukas 16,19-31 erscheint Abraham als Inbegriff des Eintretens für das, was zwischen Menschen und für Menschen recht und Recht ist.
«[...] Für die jüdische, muslimische und christliche Tradition der Nachfolge Abrahams [ist es] charakteristisch, die Rettung des einzelnen Menschenlebens und den Einsatz für das einzelne Menschenleben deutlich zu akzentuieren: Die Rettung auch nur eines einzelnen Menschenlebens ist oberstes Gebot und darin Teilnahme am Abraham-Segen und Realisierung der Abraham-Nachfolge. Die Ethik der Gerechtigkeit für die Gesellschaft im ganzen erhält also ihre Nagelprobe in der Ethik der Verantwortung für das Menschenleben im einzelnen.»
Übereinstimmend mit der jüdisch-christlichen Tradition lehrt der Koran: «"Wer einen Menschen getötet hat ..., so ist es, als habe er die ganze Menschheit getötet. Wer aber auch nur eines Menschen Leben rettet, so ist es, als habe er die ganze Menschheit gerettet" (Sure 5,35).»
«Diese Ethik der Verantwortung für den einzelnen und der Rettung des einzelnen Menschenlebens konkretisiert die Abrahamverheißung von der Segnung aller Menschen und realisiert sie für die ganze Welt. Im Neuen Testament finden wir einen dieser Aussage im Koran entsprechenden und für die Jesustradition höchst charakteristischen Text im Jakobusbrief: "Was hilft es, Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er habe [...] Glauben, aber keine Werke? [...] Du glaubst, daß es einen Gott gibt? Auch die Dämonen glauben das. Du siehst, daß der Glaube (Abrahams) zusammenwirkte mit seinen Werken. So aber glaubte Abraham Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet, und er wurde ein Freund Gottes genannt" (Jakobus 2,14-26).»
«Das alte biblische Gesetz, wie dann die Propheten es verkündeten, ist vom Standpunkt des Kleinen, des Schwachen, des Bedürftigen aus geschrieben.»
Psalm 82 nennt «das Kriterium [...], von dem her die ELOHIM, die Götter der Völker, beurteilt und an dem sie gemessen werden: "Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? Seid Richter dem Geringen und helft dem Elenden und Dürftigen zum Recht. Rettet den Geringen und Armen und befreit ihn aus der Gewalt der Gottlosen" (Ps 82,2-4).»
Toleranz als «Beziehung in Unterscheidung»; Denken vom Anderen her:
«Gen 14 [...] warnt [...] Juden, Christen und Muslime vor Überheblichkeit gegenüber den Nichtjuden, Nichtchristen und Nichtmuslimen: Es gibt die Segnung Abrahams durch den heidnischen König Melchisedek von draußen. Doch, es geht nach Gen 14 genau umgekehrt, als ihr aus eurer orthodoxen Tradition heraus erwarten würdet. [...]
Gen 14, die Begegnung des Abraham mit Melchisedek, ist [...] eine [...] Überlieferung, die über den Trialog (von Juden, Christen und Muslimen) hinaus das weite Feld der Begegnung und der Zusammenarbeit mit den außerabrahamitischen Religionen eröffnet und auch von dort her Segen, Segnung und Belehrung erwartet und erhofft.»
Ein dem Ethos Abrahams angemessener Dialog ist weder durch Exklusivität noch durch Überlegenheit noch durch Toleranz ohne Identität gekennzeichnet, sondern durch eine tolerante «Beziehung in Unterscheidung»: durch «das Denken von den anderen her (E. Lévinas) und die Faszination durch den Reichtum und die Schönheit der anderen».
«Wir haben deshalb eine Ethik der Wegbereitung für das Kommen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit in der Nachfolge Abrahams, Jesu Christi und Muhammeds zu entfalten.» (2)
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(1) In: RHEINREDEN, Schriftenreihe der Melanchton-Akademie Köln, Nr. 1/1996, S.54-63 (=V.); Neudruck: Themenheft Räumt die Steine hinweg...Jes. 62,10 der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Deutscher KoordinierungsRat, 1997.
(Publiziert im WWW vom Evangelischen Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau und vom Internationalen Rat der Christen und Juden.)
(2) In meinem Eintrag 2007-07-10 habe ich aus dem Buch "Jesus von Nazareth. Erster Teil" von Joseph Ratzinger die Einwände des Autors gegen eine regnozentrische Sicht des christlichen Glaubens zitiert («Wer sagt uns eigentlich, was Gerechtigkeit ist? Was in der konkreten Situation der Gerechtigkeit dient? Wie Friede geschaffen wird? Bei näherem Hinsehen erweist sich das alles als utopistisches Gerede ohne realen Inhalt») und mich kritisch mit ihnen befasst.
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