Jeder steht vor seinem eigenen Tod; jeder steht vor den Toden aller lebenden Lebewesen, an die er denkt; jeden berührt, erschüttert oder befriedigt der Gedanke an die Tode früherer Lebewesen. Jedes Lebewesen hat sein eigenes Leben und, als dessen Ende, seinen eigenen Tod.
Mein Leben existiert nicht; ich aber existiere. Dein Leben existiert nicht; du aber existierst.
Mein Tod und dein Tod existieren nicht; sie bedeuten aber - unter Umständen - das Ende meiner bzw. deiner Existenz. (Seneca: "mors est non esse".)
Sofern mit dem Wort "Tod" ein Sammelbegriff für die einzelnen Tode aller einzelnen Lebewesen bezeichnet wird, existiert "Tod", aber eben nur als Wort und als der durch das Wort bezeichnete Begriff.
Der Tod ist in jeder Hinsicht substanzlos, sine substantia; weder ist er ein Wesen noch hat er ein Wesen. Er ist nichtexistent. Er ist der Übergang eines Lebewesens von der Existenz in die Nichtexistenz, der nur aufgehoben ist durch die Erinnerung, die sich das vergangene Lebewesen gegenwärtig zu halten versucht. Poetisch hat dies Friedrich Hebbel in seinem "Requiem" ausgedrückt:
Seele, vergiss sie nicht,
Seele, vergiss nicht die Toten!
Sieh, sie umschweben dich,
Schauernd, verlassen,
Und in den heiligen Gluten,
Die den Armen die Liebe schürt,
Atmen sie auf und erwarmen
Und genießen zum letzten Mal
Ihr verglimmendes Leben.
Seele, vergiss sie nicht,
Seele, vergiss nicht die Toten!
Sieh, sie umschweben dich,
Schauernd, verlassen,
Und wenn du dich erkaltend
Ihnen verschließest, erstarren sie
Bis hinein in das Tiefste.
Dann ergreift sie der Sturm der Nacht,
Dem sie, zusammengekrampft in sich,
Trotzten im Schoße der Liebe,
Und er jagt sie mit Ungestüm
Durch die unendliche Wüste hin,
Wo nicht Leben mehr ist, nur Kampf
Losgelassener Kräfte
Um erneuertes Sein!
Seele, vergiss sie nicht,
Seele, vergiss nicht die Toten!
"Existiert der Tod?" ist ein Sprachgebilde, das sich in semantischer Hinsicht als leer erweist.
Zum Erweisen der Sinnhaftigkeit oder der Sinnlosigkeit eines sprachlichen Gebildes gehört mehr als die Feststellung, ob dessen Konstituenten korrekt, einer bestimmten Syntax entsprechend, zusammengefügt sind, nämlich eine Betrachtung dieser Konstituenten als Signifikanten: Auf welche Signifikate sollen/können die Konstituenten verweisen? In welcher Beziehung zueinander sollen/können die Signifikate stehen?
Manchmal ist diese Betrachtung einfach:
"Ist eine Primzahl denkbar, die heller ist als die deutsch-österreichische Grenze?" Diese syntaktisch fraglos korrekt gebildete Frage mag für jemanden eine "Inhaltsebene" eröffnen, der sich mit den definierenden Merkmalen ihrer Konstituenten (Primzahl, Helligkeit, deutsch-österreichische Grenze) nicht befasst (hat) oder aber der die prinzipielle Arbitrarität des Significans (bei gegebenem Significandum) zu einer Arbitrarität des Signifikats (bei gegebenem Signifikanten) erweitert und unter "Primzahl" oder "Helligkeit" oder "deutsch-österreichische Grenze" etwas Unübliches versteht, das offenzulegen er - der diskursiven Kommunikation halber - in der Pflicht steht. Ich meine erweisen zu können, dass "Ist eine Primzahl denkbar, die heller ist als die deutsch-österreichische Grenze?" eine semantisch "leere" Frage ist - "leer" im Sinne des Sinnmangels oder des Unsinns.
Manchmal ist diese Betrachtung nicht so einfach:
"Existiert der Tod?"
Meine Thesen (im wesentlichen bereits vorgetragen):
1. Unter "Tod" verstehe ich das, auf das er sich phänomenologisch reduzieren lässt: den Lebensverlust einer Lebenseinheit. Ihr Tod beendet ihre vitale Existenz.
(Anmerkung: "Beenden" nicht als Verlauf oder Operation in einer Zeitspanne (das wäre "Sterben", nicht "Tod"), sondern als zeitpünktliches Abbrechen.)
2. Jeder absterbenden Lebenseinheit widerfährt ihr ganz eigener konkreter Tod und nicht "der" Tod. Wohl kann man die Gesamtheit aller individualen Tode in dem Sammelbegriff "der Tod" zusammenfassen; aber weder ist es dieser abstrakte Tod, der das Leben eines Individuums beendet, noch ist das Lebensende eines Individuums die Gesamtheit aller individualen Tode.
(Anmerkung: Individual nenne ich den Tod, um auf seinen Bezug zum Individuum hinzuweisen; das Attribut "individuell" würde eine von diesem Bezug unabhängige Eigenschaft ausdrücken.)
3. Existiert der Tod?
3.1. Begriffe vom Tod existieren; das ist unbestritten.
3.2. Die Universalie "der Tod" (s. These 2) verbleibt in der bloßen Begrifflichkeit, ohne Bedeutung für ein reales Objekt, wenn sie nicht wieder rückgeführt wird auf den individualen Todesbegriff. Was der abstrakte Todesbegriff bezeichnet, existiert nur gedanklich, nicht aber in der Welt, auf die sich diese Gedanken beziehen. Es existieren wohl Projektionen der Universalie "der Tod" in die Realität hinein, dergestalt dass dem Tod Wesenhaftigkeit zugeschrieben wird. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass solche Hypostasen, Allegorisierungen und Personifizierungen fiktionale Modellierungen sind und bleiben, auch wenn die psychologisch-mythologische Sprachgewalt ihrer Bilder geeignet ist, der Anschauung von Welt bestimmte Bedeutungen aufzumodulieren.
3.3. Nun zur Frage, ob der individuale Tod (s. These 2) existiere. Ich untersuche ihre Semantik anhand konkreterer Fragen und unter Rückgriff auf mein Todesverständnis (s. These 1):
a) Existierte mein Tod schon immer? Das heißt: Existierte das Ende meiner Existenz schon immer?
b) Existiert mein Tod unabhängig von meiner Existenz? Das heißt: Existiert das Ende meiner Existenz unabhängig von meiner Existenz?
c) Existierte mein Tod schon vor Beginn meiner Existenz? Das heißt: Existierte das Ende meiner Existenz schon vor Beginn meiner Existenz?
d) Existiert mein Tod gerade jetzt? Das heißt: Existiert das Ende meiner Existenz gerade jetzt?
e) Existiert mein Tod vor dem Ende meiner Existenz? Das heißt: Existiert das Ende meiner Existenz vor dem Ende meiner Existenz?
f) Wird mein Tod genau am Ende meiner Existenz (und nur dann) existieren? Das heißt: Wird das Ende meiner Existenz genau am Ende meiner Existenz (und nur dann) existieren?
g) Wird mein Tod nach dem Ende meiner Existenz existieren? Das heißt: Wird das Ende meiner Existenz nach dem Ende meiner Existenz existieren?
h) Wird mein Tod nach dem Ende meiner Existenz auf ewig existieren? Das heißt: Wird das Ende meiner Existenz nach dem Ende meiner Existenz auf ewig existieren?
Auf keine dieser Fragen lässt sich anders entgegnen als mit der Feststellung, dass sie sich auf den ersten oder auf den zweiten Blick als unsinnig (semantisch leer) erweist. Das gilt auch für die Fragen unter f: Es ist undenkbar, dass irgendetwas am Ende meiner Existenz beginnt zu existieren und zum selben Zeitpunkt aufhört zu existieren, was hieße, dass sein Anfang durch sein zeitgleiches Ende aufgehoben würde oder dass es zugleich existierte und nicht existierte.
Zusammenfassung:
Fernab aller metaphysischer, religiöser oder haarspalterisch-quantentheoretischer Gedankenführung (letztere etwa nachzulesen in den Webpublikationen Quantum Teleportation und Does Death Exist? - Maybe not, according to some quantum theorists) habe ich dargelegt:
1. Der Begriff "Tod" existiert, nicht aber der Inhalt dieses Begriffs.
2. Dem Tod stellt sich die Erinnerung entgegen. (Möge die Erinnerung versöhnlich sein, auf dass die Toten in Frieden ruhen.)
Illustration: Andreas Paul Weber, Der kleine Sarg (1950/55)
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