2012-12-10

Aus dem Nähkästchen geplaudert

Vorzeiten — ich hatte gerade einen zwangsneurotischen Schub hinter mich gelassen — verlegte ich den Ort meiner Stecknadelsuche: Vom Heuhaufen frustriert und vom Müllplatz demoralisiert, wandte ich mich dem Nähkästchen zu. Seitdem führe ich wie eine Made im Speck ein erfülltes Leben.

Selektive Wahrnehmung

Wo immer im öffentlichen Verkehrsraum man sich bewegt, überall diese hingequalsterten und plattgetretenen Kaugummis!

Dermaleinst, da mich der Teufel ritt, herrschte ich im denkmalgeschützten Dammtorbahnhof binnen Stundenfrist sage und schreibe sieben Rotzlöffel an, sie sollten sich ihren Gummi hinter die Ohren oder sonst wohin stecken und gefälligst aufhören, den Bahnhof damit zu überziehen.

Tja. Nun sehe ich diesen Fleckenteppich gar nicht mehr; aber ich glaube, er ist noch da.

2012-12-04

Wortflucht

Ich lauschte den Worten nach,
die ich eben gesprochen hatte.
Beunruhigt wachte ich auf.
Es wollte mir nicht gelingen,
sie wieder zusammenzubringen.
Ich brach auf und hoffte auf ein gutes Ende.

2012-09-25

Erwachen

Mein schlechtes Gewissen rüttelte mich wach.
„Weißt du, wie spät es ist?“, fragte ich. Die Uhr tat, als wüsste sie von nichts.
Ich taumelte zum Fenster. „Es ist noch nicht einmal hell“, maulte ich und taumelte zurück.
Aufgewühlt, ließ mich mein Kissen nicht in Ruhe.
Ein schlechter Morgen.

Stop!

„Au weh, das geht schief“, dachte ich. Ich drückte die Pausentaste.

Nichts rührte sich. Auch ich verharrte und ging lauschend in mich.

2012-05-07

Erreichnis eines Verständnisses des Unzulänglichen

Zur Einstimmung



Gustav Mahler: 8. Sinfonie, 2. Satz - Chorus mysticus (Anfang)
CHORUS MYSTICUS
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird's Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist's getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.
Video

Zur Sache

Bis in die Oberstübchen deutscher Deutschlehrer hinein herrscht schiefes Verständnis der Worte des Chorus mysticus am Ende von Goethes Faust. Dass alles Vergängliche nur ein Gleichnis sei und das Ewig-Weibliche uns hinanziehe, gelangt ja noch eben gerade in sinnverfälschender Flachheit in die Köpfe von Oberflächenrezipienten hinein; aber was in diesen Köpfen mit dem Unzulänglichen geschieht, von dem der Chorus spricht, hier werde es Ereignis, ist schlichtweg unzureichend. Dies offenzulegen ist hier meine Absicht.
The inadequacy of earth
Here finds fulfilment
[Symphony No. 8 (Mahler) - Wikipedia]
Da haben wir's: eine mögliche Übersetzung des Missverständnisses ins Englische, ziemlich genau der Duden-Bedeutung des Lexems unzulänglich folgend:
unzulänglich (Adj.) (geh.): nicht ausreichend, um bestehenden Bedürfnissen, gestellten Anforderungen, Aufgaben zu genügen od. zu entsprechen
[DUDEN. Deutsches Universalwörterbuch, 1983]
Aber Goethes Sprache ist tiefer als die Duden-Sprache. Goethes Sprache reicht an die ursprüngliche, eigentliche Bedeutung des deutschen Worts heran und setzt beim Verstehenden den Mitvollzug dieses Schöpfens aus der Sprachquelle voraus.
Das Unzulängliche ist bei Goethe nicht das Nicht-Hinreichende, sondern das Nicht-Erreichbare, das, was nicht zu erlangen ist, das, wohin wir (unter natürlichen Umständen) nicht gelangen können, das, was sich unserer Erfahrung entzieht.
Goethe spannt mit den Worten des Chorus mysticus, vom Standpunkt der Werk-Vollendung aus (seines Werks ebenso wie des göttlichen Werks an dem Protagonisten), einen weiten Bogen zurück zum Anfang der Gesamt-Tragödie. Dort erörtern der Theater-Direktor, der Dichter und die lustige Person den Sinn des ganzen Projekts:
Vorspiel auf dem Theater (Auszug)
Lustige Person:
[...]
Drum seid nur brav und zeigt euch musterhaft,
Lasst Phantasie, mit allen ihren Chören,
Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft,
Doch, merkt euch wohl! nicht ohne Narrheit hören.
Direktor:
Besonders aber lasst genug geschehn!
Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn.
Wird vieles vor den Augen abgesponnen,
So daß die Menge staunend gaffen kann,
Da habt Ihr in der Breite gleich gewonnen,
Ihr seid ein vielgeliebter Mann.
Dichter:
[...]
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,
Wo es in herrlichen Akkorden schlägt?
[...]
Wer sichert den Olymp? vereinet Götter?
Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart.
Direktor:
[...]
So schreitet in dem engen Bretterhaus
Den ganzen Kreis der Schöpfung aus,
Und wandelt mit bedächt'ger Schnelle
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.
Und nun, am Ende der - gar nicht tragisch ausgehenden - Tragödie, steht fest:
Alles Vergängliche - das Leben und das Werk des Menschen wie auch dieses Werk dieses Dichters - ist nur ein Gleichnis - die in, hinter, über und unter ihm stehende unvergängliche Wahrheit will erst je erschlossen werden;
das Unzulängliche - wozu unserer Erfahrung der Zugang verwehrt ist -, hier wird's Ereignis - hier, nämlich im Theater!, wird es uns vor Augen geführt;
das Unbeschreibliche - was sich dem bloßen Wort und der rationalen Analyse entzieht -, hier ist's getan - hier, im Theater, ist es modellhaft veranschaulicht, vorgeführt, durchgespielt worden;
das Ewig-Weibliche - was neues Leben in sich trägt und zur Welt bringt - zieht uns hinan - will unser letztes Ziel sein.

Anmerkung
Ich freue mich, bei Rudolf Steiner eine Bestätigung für meine Interpretation gefunden zu haben: Was unter natürlichen Umständen durch Erfahrung nicht erreichbar ist, hier wird es erreicht.
Was in weitester Ferne vor dem Menschen liegt, wohin ihn der Weg führt, den er betritt, wenn er es begriffen hat, dieses «Stirb und Werde»:
Das Unzulängliche,
Hier wird's Erreichnis.
«Das Unzulängliche, hier wird's Erreichnis. » (3)
(3) Der Verfasser dieser Ausführungen bekennt sich zu der von Ad. Rudolf im Archiv für neuere Sprachen LXX 1883 vorgebrachten Ansicht, daß die Schreibung «Ereignis» nur auf einen Hörfehler des Goethes Diktat Schreibenden beruht, und daß das richtige Wort «Erreichnis» ist. [Diese Anmerkung wurde 1918, der Neu-Ausgabe, mit der veränderten Schreibweise im Goethesehen Text hinzugefügt. 1902 heißt es noch im Manuskript und gedruckten Text «Ereignis». - Die Annahme von Ad. Rudolf vertritt auch K. J. Schröer in seiner Ausgabe der Faustdichtung, die Rudolf Steiner bei der Einstudierung von Faust-Szenen in Dornach (1914-1919) benutzte. Erst 1928 wurde eine Handschrift Goethes mit der Schreibweise Ereignis aus der Goethe-Sammlung von A. Kippenberg als Faksimiledruck bekannt.]
[Steiner, Rudolf: Goethes Geistesart – in ihrer Offenbarung durch seinen Faust und durch das Märchen. Dornach, 1956.
Rudolf Steiner Online Archiv]