Ich halte Glauben für unverschämt: Der Glaubende will mehr als nur methodische Sorgfalt im Umgang mit Texten. Er will sich nicht damit abfinden, dass die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten auf dem "vielfältigen Wesen" des Textes beruhen. Glauben kommt ins Stolpern, wenn es sich bewusst macht, wie es tickt, und wenn ihm in den Sinn kommt, Wahrheit sei ein jeweiliger Spielstand im Spiel konkurrierender Interpretationen.
Der Glaubende will aus verschiedenen Gründen genau das verstehen, was der Verfasser oder der Veranlasser des Textes wollte, dass er versteht. Sei es aus Strafvermeidungsbedürfnis, sei es aus Liebe zu dem, auf den sich der Glaube richtet: Glaube will nicht der wissenschaftlichen Diskussion anheimstellen oder sonst herumeiernd im Ungewissen lassen, was von dem kommt, der höher ist als alle menschliche Vernunft, was also über ästhetisches, philosophisches und theologisches Vergnügen hinaus Bedeutendes, und zwar Eindeutig-Bedeutendes ist, was folglich nicht irgendwie orakelhaft in den Gedankenraum menschlicher Geistesgeschichte abgeladen worden ist, sondern - in unbegreiflicher Güte - dem Glauben offenbart worden ist. Denn der Glaube schließt aus, sich auf etwas Gleichgültiges oder Irrsinniges zu richten oder auf etwas, was zur Rücksichtnahme auf das begrenzte Verstehensvermögen des Glaubenden nicht imstande oder bereit wäre.
Der Glaube will also, und das macht ihn unverschämt, nicht etwas Plausibles, Naheliegendes, sondern: den offenbarten Text genau so verstehen, wie Gott ihn versteht; er will kongeniales Textverständnis. Wollte der Glauben das nicht, würde er diffus - richtungslos - dämmern - kein Licht sehen.
Ohne seine Unverschämtheit wäre Glaube Kleinglaube oder nichts. Oder rationale Theologie (gegen die ich überhaupt nichts habe).